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Fragmentierung ist nicht das Problem, sondern das Wesen der digitalen Gesellschaft.

Die Politik muss sich von ihrem Anspruch auf Totalverwaltung verabschieden. Verschiedenheit lässt sich nur mit Verschiedenheit bewältigen.

Dies gelesen: «In der heutigen Welt kommt es auf Grösse an.» (EU-Kommissar Maros Sefcovic, in: NZZ, 19.3.2024)

Das gedacht: Für EU-Kommissar Maros Sefcovic steht fest, dass für die Schweiz kein Weg an einer institutionellen Anbindung an die EU vorbeiführt. Dies aus einem einfachen Grund: Gut ist, was gross ist. Eine Vorstellung, die nicht nur EU-Politiker auszeichnet. Nur, stimmt dies? Liegt, wie Sefcovic behauptet, die Zukunft in möglichst grossen Organisationen?

Die Fakten jedenfalls sprechen eine andere Sprache. Der Trend geht nicht in Richtung grosser politischer Einheiten. Von 1900 bis heute stieg die Zahl der Staaten von weltweit 50 auf knapp 200. Im 20. Jahrhundert entstand alle neun Monate ein neuer Staat. Auch im 21. Jahrhundert setzt sich die Staatenvermehrung fort, wenn auch verlangsamt. Egbert Jahn spricht von der wundersamen Vermehrung der Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung.

Grösse ist auch keine Garantie für Wohlstand. Im Gegenteil. 16 der 20 Länder mit dem grössten kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf im Jahr 2022 haben weniger als 10 Millionen Einwohner.

Und Grösse macht erst recht nicht glücklich. Gemäss dem World Happiness Report gehört zu den zehn Staaten mit den glücklichsten Menschen kein einziger Grossstaat. Bei den Top Ten liegt der Durchschnitt bei 7.1 Millionen Einwohnern.

Industrielle Logik

Grösse hat wenig mit den Menschen und ihren Bedürfnissen zu tun. Das Denken in Grössenvorteilen entspricht nicht der menschlichen, sondern einer industriellen Logik. Immer geht es darum, dank Grösse Skalenerträge und Grenzkosten zu optimieren. Und dies nicht nur in der Massenproduktion, den Massenmedien oder dem Massentourismus, sondern auch in der Staatsorganisation.

Das Ziel sind soziale Systeme, die als perfekte Maschine funktionieren und mit minimalem Output massenhafte Bedürfnisse bedienen. Bürokratisierung und Zentralisierung durchdringen sämtliche Bereiche. Max Horkheimer spricht von der totalen Verwaltung der Welt. Alles wird reglementiert, kontrolliert und sanktioniert. Was zählt, ist der normierte Bürger, die normierte Schülerin, das normierte Produkt. Einheitlichkeit und Organisation sind die Denkweise und das Handlungsmuster der industriellen Gesellschaft.

Digitale Revolution

Herausgefordert wird die industrielle Logik durch die digitale Revolution. Dank ihrer radikalen Einfachheit funktioniert die Digitalisierung in den verschiedensten kulturellen Zusammenhängen. Auf der ganzen Welt arbeiten und kommunizieren Menschen unterschiedlichster Herkunft und mit unterschiedlichem Bildungsniveau mit den denselben Geräten und denselben Funktionen. Die weltweite Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit digitaler Innovationen machen die Globalisierung aus. Die Welt ist zu einem grossen Dorf geworden.

Gleichzeitig lösen digitale Technologien unsere Gesellschaft immer feiner auf. Christoph Kucklick beschreibt diese Entwicklung mit dem Begriff der «granularen Gesellschaft». Wir erleben eine Messrevolution, können das soziale Leben, die Kommunikation, die Natur oder unseren Körper viel feinkörniger vermessen und erfassen als je zuvor.

Nachrichten erreichen uns in enormer Auflösung und über unzählige Quellen. Auf unseren Smartphones buhlen Apps von regionalen, nationalen und internationalen Anbietern, Bezahlmedien, Gratisportalen und sozialen Netzwerken um unsere Aufmerksamkeit.  Facebook bietet seinen Nutzern rund sechzig Möglichkeiten, das eigene Geschlecht zu benennen. Differenzierungen, die mit digitalen Technologien ohne Probleme zu bewältigen sind.

Die einer industriellen Logik geschuldete Einheitlichkeit, die Notwendigkeit der Normierung, der Gleichschaltung und damit der Durchschnitt verlieren in der digitalen Welt an Bedeutung. Unsere Gesellschaft steht an der Schwelle zum Zeitalter der Verschiedenheit.

Fragmentierung

Die Schnittmenge der einzelnen sozialen Milieus wird immer kleiner. Das Lebensgefühl eines Google-Mitarbeitenden in der Europa-Allee in Zürich hat mehr mit dem Alltag von Menschen aus San Francisco oder London zu tun als mit dem Toggenburg.

Manager globaler Konzern verabschieden sich von den Niederungen der nationalen Politik. Auch die Hochschulen haben sich weit vom gesellschaftlichen und politischen Leben ihrer Standortgemeinden entfernt. Universitätsprofessoren bewegen sich aus nachvollziehbaren Gründen bevorzugt in ihrer internationalen Wissenschaftscommunity.

Ausgeprägt zeigen sich diese Auflösungstendenzen in der Parteienlandschaft. In Italien sind die einst mächtigen Volksparteien von der Bildfläche verschwunden. Vergleichbares gilt für Frankreich. Macron gründete für seinen Präsidialwahlkampf eine eigene, als Bewegung aufgezogene politische Partei.

Die SVP entwickelte sich vom Juniorpartner im Bundesrat zur mit Abstand stärksten Partei der Schweiz. Links der Mitte etablierten sich die Grünen und die Grünliberalen als eigenständige politische Kräfte. Und selbst das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, das darauf angelegt ist, neuen Parteien das Leben schwer zu machen, kann die fortschreitende Zersplitterung nicht verhindern.

Die immer wieder beklagte Fragmentierung ist nicht das Problem, sondern das Wesen der digitalen Gesellschaft. Die damit verbundenen Herausforderungen lassen sich mit der Denkweise und den Handlungsmustern der industriellen Gesellschaft nicht bewältigen. Das Streben nach Einheitlichkeit und perfekter Organisation führt in die Sackgasse. Dies zeigen die allgegenwärtigen politischen Krisen, explodierende Staatsschulden und der Vertrauensverlust in unsere politischen Institutionen.

Systemkrise

Kennzeichnend für diese Verwerfungen ist, dass sich diese den gewohnten politischen Differenzierungen entziehen. Mal sind es linke, mal bürgerliche Regierungen, die von Massenprotesten herausgefordert werden. Die Unzufriedenheit über die politischen Verhältnisse prägt den politischen Diskurs in wohlhabenden Staaten genauso wie in Volkswirtschaften mit einem bescheidenen durchschnittlichen Realeinkommen.

Selbst gefestigte Rechtsstaaten wie die Schweiz greifen zu Notrecht. Verfassungsmässig garantierte Grundrechte und geltende Gesetze werden kurzerhand ausser Kraft gesetzt, politische Überzeugungen über Nacht entsorgt. Wer gestern bedingungslos für den Frieden kämpfte, fordert heute Waffenlieferungen. Bürgerliche Kreise setzen darauf, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.

Die Tatsache, dass diese politischen Erschütterungen alle westlichen Länder erfassen, unabhängig von der institutionellen Ausgestaltung und unabhängig von aktuellen Mehrheitsverhältnissen, weist darauf hin, dass wir es nicht mit den Problemen einzelner Politikerinnen und Politiker, Parteien oder bestimmten Ideologien, sondern mit einer Systemkrise zu tun haben.

Offene Gesellschaft

Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lassen sich nicht mit den Ideen des 18. Jahrhunderts, den Institutionen des 19. Jahrhunderts und den Methoden des 20. Jahrhunderts bewältigen. Der Werkzeugkasten der Industriegesellschaft hat ausgedient.

Jeder Versuch, den gesellschaftlichen und politischen Wandel mit immer mehr Vorschriften und Kontrollen, mit dem Ausbau der öffentlichen Verwaltung und staatlich finanzierten Programmen in den Griff zu bekommen, scheitert an der Komplexität der digitalen Gesellschaft. Verschiedenheit lässt sich nur mit Verschiedenheit bewältigen.

Bereits vor Jahrzehnten wies F. A. Hayek darauf hin, dass Fortschritt nicht geplant werden kann. Wer die ganze Gesellschaft zu einer einzigen Organisation macht, die nach einem einzelnen Plan entworfen und geleitet wird, zerstört die Kraft der individuellen menschlichen Vernunft. Der Entwicklungsprozess verliert seinen experimentellen Charakter. Es bleibt kein Raum für Unvorhergesehenes und Unvoraussagbares.

Eine fragmentierte Gesellschaft lässt sich nicht von oben nach unten regieren. Auf Jahrzehnte angelegte Massnahmenpläne zeugen von grenzenloser Selbstüberschätzung. Politische Massnahmen, die der einzelnen Bürgerin und dem einzelnen Bürger unter Strafandrohung vorschreiben, wer sich wann wie zu verhalten hat, sind nicht Teil der Lösung, sondern das Problem. Die Menschen brauchen keine staatlich verordnete Ergebnisgleichheit, sondern eine offene Gesellschaft, die jeder und jedem die Freiheit und die Chance gibt, das eigenes Glück zu suchen und zu finden.

Gentle Anarchist

Anders als von Maros Sefcovic behauptet, kommt es nicht auf Grösse an. Grösse an sich ist kein Wert. Weit entscheidender sind der Wettbewerb der Ideen, eine Vielfalt an Lösungsansätzen und die Verschiedenheit sozialer Systeme. Die Summe der Gedanken vieler übertrifft selbst die klügste Person.

Die Politik muss sich von ihrem Anspruch auf Totalverwaltung verabschieden. Das Betriebssystem der digitalen Gesellschaft ist nicht ein übergeordnetes Kollektiv, sondern das freie Zusammenspiel einer Vielzahl von unterschiedlichen Communities mit je eigenen thematischen Absichten.

Die entscheidenden Akteure sind dabei Menschen, die als «Gentle Anarchist» ihren eigenen Weg gehen, die Verantwortung für ihr Leben und die Gesellschaft selbst in die Hand nehmen. Unabhängig von obrigkeitsstaatlichen Direktiven und unabhängig von wohlfahrtsstaatlichen Zuwendungen. Frei nach Erich Kästner: «Es gibt nichts Gutes, ausser man tun es selbst.»

Dieser Text zitiert ältere Publikationen des Autors:

(2020)  Wer sich nicht bewegt, wird bewegt.

(2018)  Systempluralismus – Politik im 21. Jahrhundert

(2017)  Diagnose: Digitaler Jetlag

(2015)  Baustelle Nationalstaat

(2014)  Mehr Vielfalt, weniger Politik.

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