Politik

Mächtige verzichten nicht freiwillig auf Macht

Krisen bringen einen starken Anstieg der Staatsquote. Diese wird nach der Krise wieder abgebaut, allerdings nicht mehr auf das Vorkrisenniveau. Ohne Widerstand von unten wird auch die Schweiz nach Corona weniger frei sein als vor Ausbruch der Pandemie.

Parteiprogramme pflegen eine wohlklingende Sprache. Liberale kämpfen für die individuelle Freiheit. Sozialdemokraten sind der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. National gesinnte Kräfte bewahren die Schweiz. Die Grünen retten gleich die ganze Welt. Was zählt, sind edle Motive, eine bessere Zukunft.

Ganz anders der politische Philosoph Niccolò Machiavelli: «Politik ist die Summe der Mittel, die nötig sind, um zur Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten und um von der Macht den nützlichsten Gebrauch zu machen.“ Es geht um Macht und nicht um Moral. Vergleichbar anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts der grosse Soziologe Max Weber. Auch er beschreibt Politik als das Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung.

Nun ist es zweifellos verfehlt, allen politisch engagierten Menschen Machtstreben zu unterstellen. Insbesondere in den Gemeinden und in den Kantonen, in der politischen Basisarbeit, in vielen ehrenamtlich geführten Vereinen, Verbänden und Interessenorganisationen engagieren sich unzählige Menschen aus überwiegend ideellen Motiven.

Dort allerdings, wo das ganz grosse politische Rad gedreht wird, spielt die Machtmotivation eine entscheidende Rolle. Immer geht es um die nächsten Wahlen, um Regierungssitze, die Beseitigung von Rivalen, um Klientelpolitik. Ganz besonders beim politischen Spitzenpersonal. Ohne einen ausgeprägten Machtinstinkt schafft es niemand ganz nach oben.

Wie die vor 500 Jahren von Machiavelli geschriebenen Zeilen zeigen, ist dies alles nicht neu. Es ist denn auch einer der ganz grossen Errungenschaften liberaler Demokratien, individueller Macht institutionelle Grenzen zu setzen. In der Schweiz ist es nicht nur die übliche Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Bei uns kommen mit dem Föderalismus und insbesondere der direkten Demokratie zusätzliche Elemente der Machtteilung ins Spiel, die bis heute den Sonderfall Schweiz ausmachen.

Wenigstens in sogenannt normalen Zeiten. Ganz anders sieht es auch bei uns in ausserordentlichen Lagen aus. Beispielsweise in Kriegszeiten. Dann schlägt die Stunde der Regierung, der Machtpolitiker. Nun funktioniert das politische System von oben nach unten. Gehorsam wird zur ersten Bürgerpflicht. Jetzt heisst es kommandieren, kontrollieren, sanktionieren.

Heute sind wir glücklicherweise weit entfernt von Kriegen. Zumindest distanzmässig. Krisen haben neue Gesichter. Beispielsweise in der Gestalt maroder Grossbanken, die mit ihren Spekulationen die globale Finanzarchitektur erschüttern. Vor allem aber war und ist es die Corona-Pandemie, die weltweit demokratische Spielregeln ausser Kraft setzte. Auch in der Schweiz. Die Exekutive und die Verwaltung übernahmen das Kommando. Das Parlament verabschiedete sich in die vorgezogenen Ferien. Der Bundesrat befahl, die Medien applaudierten. Wer den Corona-Massnahmen widersprach, wurde als Covidiot ausgegrenzt. Geistige Landesverteidigung reloaded. Beim Erlass staatlicher Massnahmen spielte der Rechtsgrundsatz der Verhältnismässigkeit keine Rolle mehr. Nun hiess es: Whatever it takes. Auch bei Finanzhilfen. An die Stelle des sorgfältigen Umgangs mit öffentlichen Geldern trat die gönnerhafte Grosszügigkeit der Regierenden. Geld spielt keine Rolle. Vor allem dann, wenn es nicht das eigene ist.

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass dies alles halb so schlimm, da nur vorübergehend ist. Nur, exakt hier liegt der Hund begraben. Mächtige verzichten nicht freiwillig auf Macht. Nach dem 2. Weltkrieg brauchte es mehrere Initiativen, um den Bundesrat zu zwingen, auf seine Vollmachten zu verzichten.

Und selbst dann, wenn die Regierenden zu mehr machtpolitischer Bescheidenheit genötigt werden, gibt es erfahrungsgemäss kein Zurück auf Feld Eins. Dies zeigen Untersuchungen des Wirtschaftshistorikers Thomas Straumann. Er spricht von einem «displacement effect», der Verschiebung des Plateaus. Krisen bringen einen starken Anstieg der Staatsquote. Diese wird nach der Krise wieder abgebaut, allerdings nicht mehr auf das Vorkrisenniveau. Der displacment effect erklärt den langfristigen Anstieg von Staatsquote und Staatsschulden in allen modernen Volkswirtschaften.

Ein Beispiel. 1940 führte der Bundesrat mit einem Vollmachtenbeschluss die Wehrsteuer als progressive Bundessteuer ein, befristet auf die Dauer des Zweiten Weltkriegs. Nach Kriegsende wurde diese jedoch weiterhin einkassiert. Ohne schlechtes Gewissen. 1983/84 erfolgte die Umbenennung in direkte Bundessteuer. Heute ist diese die zweitwichtigste Einnahmequelle des Bundes. Befristet? Zweckbestimmt für die Bewältigung einer Notlage? Da lachen ja die Hühner!

Gegen die Machtansprüche von Bundesbern gibt es keinen Impfstoff. Dagegen hilft einzig die geballte Kraft der üblicherweise schweigenden Mehrheit. Die «Critical Mass», die es braucht, um die Gesellschaft zu verändern, sind nicht die 2500 Velofahrer, die bei ihren monatlichen Happenings in Zürich lautstark und medientauglich den privaten und den öffentlichen Verkehr blockieren. Die wirklich kritische Masse einer Demokratie ist die grosse Zahl an Menschen, die tagtäglich ihrer Arbeit nachkommen. Selbstverantwortlich und pflichtbewusst. Ohne grosse Töne und ohne permanente Forderungen an die Allgemeinheit. Sie haben es in der Hand, mit ihren Abstimmungs- und Wahlzetteln machtverliebten Politikerinnen und Politikern und ihren Organisationen die rote Karte zu zeigen. Ohne Widerstand von unten wird auch die Schweiz nach Corona weniger frei sein als vor Ausbruch der Pandemie.

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