Politik

Betroffenheitsgraben

Die direkte Demokratie funktioniert von unten nach oben. Themen und Sachfragen, die nur einzelne Gemeinden oder Kantone betreffen, sind von diesen und nicht vom Schweizer Stimmvolk zu regeln.

Für die Bevölkerung des Kantons St.Gallen war die Sache klar. 64,4 % der Abstimmungswilligen und alle Gemeinden verwarfen das Medienpaket. Selbst die rotgrüne Stadt St.Gallen lehnte die von Bundesrat und Parlament vorgeschlagenen Subventionen für private Medienhäuser ab.

In der Abstimmungsstatistik findet man allerdings eine bemerkenswerte Ausnahme. Die im Kanton St.Gallen stimmberechtigten Auslandschweizer stimmten dem Medienpaket mehrheitlich zu. Dies ist insofern erstaunlich, als viele der vorgeschlagenen Massnahmen für die Auslandschweizer bedeutungslos sind. Dies gilt insbesondere für die Millionensubventionen zu Gunsten der Frühzustellung von Tageszeitungen.

Die Zustimmung der Auslandschweizer zu den Milliardensubventionen hat wohl in erster Linie damit zu tun, dass diese in der Regel in der Schweiz keine Steuern bezahlen. Der wuchernde Staatsapparat belastet sie nicht. Staatsausgaben sind offensichtlich dann kein Problem, wenn man selbst nicht zur Kasse gebeten wird.

Angesprochen ist damit eine grundsätzliche Fehlentwicklung unserer direkten Demokratie. Die zunehmende Zentralisierung führt dazu, dass das Schweizer Volk immer wieder Gesetze verabschiedet, bei denen das Stimmvolk über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheidet.

Nehmen wir die Zweitwohnungsinitiative. Eine hauchdünne Mehrheit der Stimmenden aus dem Mittelland und der Nordostschweiz entschied, dass in Gemeinden mit über 20% Zweitwohnungen keine weiteren Ferienwohnungen mehr gebaut werden dürfen. Gegen den Willen der Einwohner in den Tourismusregionen. Alle Gebirgskantone lehnten die Initiative ab. Heute zeigen sich die negativen Folgen der Zweitwohnungsinitiative. Die einheimische Bevölkerung in den Bergen wird aus ihren Mietwohnungen verdrängt.

Wiederholt hat sich die Geschichte beim gescheiterten Jagdgesetz. Die Bevölkerung in den wolfsfreien Agglomerationen von Zürich, Bern, Basel, Genf oder der Waadt bestimmte, dass die Bergler die Ausbreitung der Wölfe in ihrer Nachbarschaft und in den Weidegebieten ihrer Schafe zu akzeptieren haben.

Vergleichbares auch in der Klimadiskussion. Wer die Tramstation vor der Haustüre hat, in der Nähe eines Hauptbahnhofs wohnt und von den Milliardensubventionen in den öffentlichen Verkehr persönlich profitiert, kann ohne Beisshemmung hohe Benzinpreise einfordern. Anders sieht es für all diejenigen aus, die fernab der Zentren wohnen und für ihren Arbeitsweg auf das Auto angewiesen sind.

Wie die NZZ in einem Kommentar feststellte, zeigt sich in all diesen Auseinandersetzungen mehr als der vielbeschworene Stadt-Land-Graben. Es geht um einen Betroffenheitsgraben. Die Mehrheit der Nicht-Betroffenen treibt die Minderheit der Betroffenen vor sich her. Vielfach mit dem Anspruch der moralischen Überlegenheit und in der Gewissheit, dass man mit den Folgen der Entscheidungen nichts zu tun hat. Dies ganz im Sinne einer Lebensweisheit meiner Grossmutter: Wyt vom Gschütz git alti Chrieger.

Tyrannei der Mehrheit

Vor fast 200 Jahren besuchte der französische Gelehrte Alexis de Tocqueville die noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Beobachtungen fasste er im Werk «Über die Demokratie in Amerika» zusammen. Darin sprach er unter anderem von der «Tyrannei der Mehrheit», der Gefahr eines Machtmissbrauchs der Mehrheit auf Kosten der im demokratischen Wettbewerb unterlegenen Minderheiten.

Alle westlichen Demokratien haben versucht, dieser Herausforderung durch die Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz, Minderheitsrechte und die freie Meinungsäusserung entgegenzutreten. Darüber hinaus setzte die Schweiz auf die Kraft eines echten Zweikammersystems, das Ständemehr bei Verfassungsänderungen und insbesondere einen gelebten Föderalismus.

In einem föderalen System sind die Kompetenzen nach dem Subsidiaritätsprinzip auf Bund, Kantone und Gemeinden aufgeteilt. Wenn immer möglich ist eine staatliche Aufgabe von der unteren Ebene wahrzunehmen.

Für die direkte Demokratie bedeutet dies, dass alles, was alle angeht, von allen gemeinsam zu entscheiden ist. Themen und Sachfragen jedoch, die nur einzelne Gemeinden oder Kantone betreffen, sind von diesen und nicht auf nationaler Ebene zu regeln.

Mit anderen Worten, die Problematik des Zweitwohnungsbaus oder der Wolfpopulation ist von den betroffenen Gemeinwesen und nicht vom Schweizer Stimmvolk zu entscheiden. Genauso wie es (bisher wenigstens) niemandem in den Sinn gekommen ist, über den Bau von Hochhäusern in der Stadt Zürich die Einwohnerinnen und Einwohner des Safientals abstimmen zu lassen.

Der Föderalismus ist keine Garantie gegen Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen. Direktbetroffene jedoch sind weit näher bei den Problemen. Sie kennen die zur Diskussion gestellten Herausforderungen aus eigener Erfahrung und nicht nur aus der Zeitung. Und, noch entscheidender, sie sind von den Folgen ihres Tuns oder Unterlassens unmittelbar betroffen. Sie stehen selbst in der Verantwortung, müssen mit den Folgen ihrer Entscheidungen leben.

Unsere direkte Demokratie funktioniert von unten nach oben, und nicht umgekehrt. Die zunehmende Verlagerung von Kompetenzen auf die nationale Ebene beschädigt das politische Engagement vor Ort und belastet das Verhältnis der Regionen zueinander. Auf der Strecke bleibt der nationale Zusammenhalt.

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