Posts Tagged ‘Milizsystem’

Nebelspalter Politik

Economiesuisse: Wenn die direkte Demokratie zur Nebensache wird

Dies gelesen: «Die innerstaatlichen Genehmigungsverfahren sind vorbehalten und entsprechende Fristen sind garantiert (…). Damit bleiben sämtliche verfassungsrechtlichen Erfordernisse der Schweiz gewahrt, inklusive die Volksrechte. (Quelle: economiesuisse, Vernehmlassung Paket Schweiz-EU)

Das gedacht: Der Vorstand von economiesuisse unterstützt das EU-Vertragspaket. Ohne Wenn und Aber. Besonders angetan ist man von der dynamischen Rechtsübernahme. Diese, so economiesuisse, liegt im wirtschaftlichen Interesse der Schweiz.

Nicht angesprochen wird in der Vernehmlassung von economiesuisse das Spannungsfeld von dynamischer Rechtsübernahme und direkter Demokratie. Man begnügt sich mit der Feststellung, dass die verfassungsrechtlichen Erfordernisse gewahrt bleiben. Eine Verkürzung der direkten Demokratie auf den Abstimmungssonntag, die jedes Verständnis für das politische System der Schweiz vermissen lässt.

Zwangsheirat statt Liebesbeziehung

Wer sich allerdings mit der Geschichte der Volksrechte befasst, den kann das fehlende Verständnis von economiesuisse für den politischen Sonderfall Schweiz nicht wirklich überraschen. Seit jeher gleicht das Verhältnis der Spitzenverbände der Wirtschaft zur direkten Demokratie mehr einer Zwangsheirat als einer Liebesbeziehung:

  • Die Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums im Jahre 1874 richtete sich gegen das «System Escher». Alfred Escher, visionärer Wegbereiter der modernen Schweiz, dreifacher Nationalratspräsident, Eisenbahnpionier und Gründer der ETH, der Schweizerischen Kreditanstalt und der Rentenanstalt verkörperte wie kein anderer im jungen Bundesstaat die wirtschaftliche und politische Machtkonzentration in den Händen einer freisinnig-liberalen Elite. Dagegen setzte sich die direktdemokratische Bewegung zur Wehr.
  • Dem eigenen Selbstverständnis entsprechend vertraute der Vorort, der 1870 gegründete Spitzenverband von Industrie und Handel, auf Absprachen hinter verschlossenen Türen. Der Vorort-Direktor verstand sich als achter Bundesrat. Die direktdemokratische Auseinandersetzung überliess man mit vornehmer Zurückhaltung den Bodentruppen von Gewerkschaften und Gewerbeverband.
  • Trotz veränderter politischer Rahmenbedingungen hat sich bis heute daran nichts geändert. Economiesuisse, die Nachfolgeorganisation des Vororts, hat noch nie eine eigene Volksinitiative oder ein eigenes Referendum lanciert. Economiesuisse und der Schweizerische Arbeitgeberverband sind nicht referendumsfähig.
  • Verstärkt wird die Distanz der Konzernwirtschaft zur direkten Demokratie durch die Tatsache, dass die Hälfte der Geschäftsleitungsmitglieder der 100 grössten Arbeitgeber keinen Schweizer Pass Für viele ausländische Konzernmanager ist das politische System der Schweiz mit seinen Initiativen und Referenden, mit dem Föderalismus und dem Milizsystem in Politik und Armee ein Buch mit sieben Siegeln.

Einzigartige Stabilität

Für economiesuisse ist die direkte Demokratie bestenfalls Nebensache. Eine Haltung, die der besonderen Bedeutung des politischen Systems für den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz nicht gerecht wird:

  • Die direkte Demokratie zwingt die Politik zu einer umfassenden Beteiligung aller relevanten politischen Akteure. Dazu gehört die Vielparteienregierung. Brandmauern als Mittel des Machterhalts funktionieren nicht.
  • Das Initiativrecht durchbricht das Anbieter-Monopol der etablierten Parteien und ermöglicht, im parlamentarischen Prozess nicht berücksichtigte Anliegen und insbesondere neue Themen frühzeitig auf die politische Agenda zu setzen.
  • Referenden garantieren, dass umstrittene Gesetzesvorlagen von der Mehrheit des Stimmvolks getragen werden. Bei uns gibt es keinen Green Deal und kein Heizungsgesetz, das gegen die Mehrheit der Bevölkerung verabschiedet werden kann.

Die Konsensorientierung ist eine unmittelbare Folge der direkten Demokratie. Der breit abgestützte Kompromiss macht den Unterschied und erklärt nicht nur die einzigartige Stabilität des politischen Systems, sondern auch die mit dieser Stabilität verbundene Attraktivität der Schweiz als Unternehmensstandort.

Schmerzliche Niederlagen

In der jüngeren Vergangenheit musste die Wirtschaft an der Urne zahlreiche schmerzliche Niederlagen akzeptieren. Erinnert sei etwa an die Reform der beruflichen Vorsorge, die Vorlage für den Autobahnausbau oder die 13. AHV-Rente. Selbst der extremen Konzernverantwortungsinitiative stimmten 50,7 Prozent des Stimmvolkes zu.

Economiesuisse, der Schweizerische Arbeitgeberverband und zunehmend auch der Gewerbeverband dringen mit ihren Argumenten nicht mehr bis zu den Stimmbürgern durch. Viele sprechen von Entfremdung.

Eine Fehlentwicklung, die sich im Zusammenhang mit dem EU-Vertragspaket zu wiederholen droht. Ein economiesuisse-Vorstand, der die institutionelle Anbindung der Schweiz an die EU mit 69 JA und nur einer Gegenstimme durchwinkt, hat nicht nur den Kontakt mit der Bevölkerung, sondern auch die Nähe zu vielen Unternehmen verloren.

Und damit sind wir wieder bei Alfred Escher. Dieser stand am Ende seiner glanzvollen Karriere isoliert und ohne politischen Einfluss da.

Seit jeher gilt, dass man die Schweiz nicht von oben herab regieren kann. Eine Erfahrung, die uns von allen unseren Nachbarländern und der EU unterscheidet.

Die dynamische Übernahme von EU-Recht und die Stellung des EU-Gerichtshofs im Streitfall stehen im Widerspruch zur politischen Kultur der Schweiz. Auf der Strecke bleiben der politische Sonderfall und die damit verbundene Standortattraktivität. Eine Entwicklung, an der weder die «economie» noch die «suisse» interessiert sein können.

Erstpublikation am 7.10.2025 auf www.nebelspalter.ch

Nebelspalter Politik

Asylkosten: Das grosse Versteckspiel des Bundesrates  

Dies gelesen: Eine Gesamt- resp. Vollkostenrechnung des Asylbereichs aller drei Staatsebenen (Bund, Kantone und Gemeinden) existiert in der Schweiz nicht. (Quelle: Postulat Knutti, Stellungnahme des Bundesrates)

Das gedacht: Die Forderung nach Transparenz gehört zu den Dauerbrennern linker Politik. Argumentiert wird mit der Stärkung der direkten Demokratie und dem Vertrauen in die Politik. So etwa die Urheber der 2017 eingereichten Transparenz-Initiative.

Das Bedürfnis nach Transparenz schmilzt dann allerdings wie Schnee an der Sonne, wenn das zu erwartende Ergebnis Bundesbern gegen den Strich geht. Beispielweise bei den finanziellen Konsequenzen der Asylmigration.

Die halbe Wahrheit

In diesem Jahr rechnet der Bund mit Ausgaben für das Asylwesen von rund 4 Milliarden Franken. Die offiziell ausgewiesenen Kosten stellen allerdings nur die halbe Wahrheit dar.

Was in dieser Zahl fehlt, sind alle Kosten der Asylmigration in den Kantonen und in den Gemeinden, die nicht vom Bund bezahlt werden:

  1. Dies gilt insbesondere für die Sozialhilfe. Etwa 80 Prozent der anerkannten Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen beziehen Sozialhilfe. Der Bund überweist für sie während fünf respektive sieben Jahren eine Sozialhilfepauschale. Anschliessend werden die Kantone und die Gemeinden zur Kasse gebeten. 2023 rechnete Martina Bircher vor, dass die Gemeinde Aarburg für ihre 170 Asylbewerber im Durschnitt 15’000 Franken Sozialhilfe pro Kopf und Jahr bezahlen musste. Multipliziert man diesen Betrag mit der Zahl der schweizweit von der Sozialhilfe abhängigen Asylbewerbern und vorläufig Aufgenommenen, dann kommt man auf Ausgaben in Milliardenhöhe.
  2. Dazu kommen ungedeckte Zusatzkosten in den Schulen, in der Integration und der Betreuung. Minderjährige Kinder von Asylbewerbern haben oft einen besonderen Förder- und Bildungsbedarf. Es braucht Sonderschulen, die Sonderpädagogik, integrative Modelle und Spezialklassen.
  3. Weiter geht es mit den Kosten für das Justizwesen. Im Jahre 2024 gingen beim Bundesverwaltungsgericht insgesamt 8198 neue Fälle ein. Zwei Drittel (5349) davon betrafen Asylverfahren.
  4. Belastet werden aber auch die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden. Gemäss der aktuellen Kriminalstatistik sind Asylmigranten und vor allem Ausländer ohne ständigen Wohnsitz in der Schweiz für ein Viertel der Straftaten verantwortlich.
  5. Zusatzkosten entstehen darüber hinaus im Gesundheitswesen sowie in der allgemeinen Verwaltung. Dolmetscher, Juristen, Sprachlehrer und Coaches unterstützen Asylmigranten bei der Wahrung ihrer Interessen und beim Erlernen von Alltagskompetenzen.

Kunst der faulen Ausrede

In seiner Stellungnahme zum Postulat Knutti machte der Bundesrat geltend, dass es mit Blick auf die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen und die Vielzahl von involvierten Akteuren nicht möglich ist, die «gesamten Kosten des Asylbereichs im Sinne einer Vollkostenrechnung aufzuführen».

Eine Argumentation, die sehr viel mit der Kunst der faulen Ausrede und wenig mit dem Werkzeugkasten der Behörden zu tun hat:

  • Wenn um das EU-Vertragspaket geht, können der Bundesrat, die Bundesverwaltung und die von ihnen beauftragten Berater in die Zukunft blicken. Sie rechnen uns vor, dass bei einem Wegfall der Binnenmarktabkommen und der EU-Forschungsprogramme die Löhne der Niedrig- und Mittelqualifizierten Jahre 2045 (!) 08 Prozent tiefer liegen. Nicht mehr und auch nicht weniger.
  • Ganz anders sieht es aus, wenn nicht das Orakel von Delphi gefragt ist, sondern der nüchterne Blick in die Gegenwart. Dann geht plötzlich nichts mehr. Dabei wird unterschlagen, dass die Kosten für die Asylmigration, die in den einzelnen Gemeinwesen und Institutionen anfallen, alles andere als eine Blackbox
  • Was jedoch fehlt, ist der Wille, diese Kosten in einer Studie zusammenzufassen und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Aus einem einfachen Grund: Bundesbern fürchtet das Resultat.

Ehrliches Preisschild

Das asylpolitische Versteckspiel des Bundesrates ist mehr als ein finanzpolitisches Problem. Es missachtet die Spielregeln einer funktionierenden Demokratie.

Voraussetzung einer korrekten politischen Willensbildung ist die verständliche, unverfälschte und umfassende Darlegung aller relevanten Fakten. Dazu gehört ein ehrliches Preisschild.

Dies gilt ganz besonders in einer direkten Demokratie, in der in entscheidenden Sachfragen das Volk und nicht Berufspolitiker das letzte Wort haben.

Behörden, die ihren Informationsauftrag im Sinne der eigenen politischen Agenda interpretieren, verhalten sich unfair. In einem Fussballspiel wäre dies ein Fall für die rote Karte.

Erstpublikation am 23.9..2025 auf www.nebelspalter.ch

Nebelspalter Politik

Weshalb das politische System den Sonderfall Schweiz ausmacht – und weshalb wir gut daran tun, dafür Sorge zu tragen.

Dies gelesen: «Sonderfall Schweiz – 734 Jahre sind genug.» (Quelle: WOZ, 7.8.2025)

Das gedacht: Es ist wieder einmal soweit. Die reaktionäre Linke erklärt das Ende des Sonderfalls Schweiz. Konkreter Anlass dazu bietet dem WOZ-Redaktor der Zollhammer von Trump.

Bedient werden im Artikel von Kaspar Surber die üblichen Klischees aus den 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts:

  • Der Sonderfall wird mit der Vorstellung «von einer schicksalhaften, gottgewollten Auserwähltheit seit 1291» in Verbindung gebracht.
  • Diesem Bild wird eine Schweiz gegenübergestellt, die vom Sklavenhandel und von kolonialer Ausbeutung profitierte und von Grossbanken, die das rassistische südafrikanische Appartheimregime stützten.

Einseitiger geht es nicht. Jeder halbwegs gebildete Mensch weiss, dass die Schweiz seit jeher mit der ganzen Welt verbunden ist. Ein Beispiel dafür ist St.Gallen, die Heimatstadt des WOZ-Autors.

  • Im 9. und 10. Jahrhundert war das Kloster St.Gallen eines der kulturellen Zentren des deutschsprachigen Raums.
  • Ab dem 15. Jahrhundert verkauften St.Galler Leinwandhändler ihre hochwertigen Produkte in ganz Europa.
  • In der zweiten Hälfte des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts eroberte die St.Galler Stickerei die Welt. Die wichtigsten Exportländer waren Frankreich und die USA.

Die Schweiz hat nie als einsame Insel funktioniert. Schon immer verdienten wir unseren Wohlstand im engen Austausch mit unseren Nachbarländern und der weiten Welt. Gemäss dem KOF Globalisierungsindex gehört die Schweiz heute zu den am stärksten globalisierten Ländern. Dabei versteht sich von selbst, dass es in dieser jahrhundertelangen Geschichte auch dunkle Kapitel gibt.

Die Alleinstellungsmerkmale

Nur, darum geht es nicht. Nicht die weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen mit all ihren Sonnen- und Schattenseiten, sondern das politische System macht den Sonderfall Schweiz aus.

Um dies zu verstehen, genügt ein Blick auf die offizielle Bezeichnung unseres Bundesstaates: Schweizerische Eidgenossenschaft. Der «Eid» und die «Genossenschaft» sind die ursprünglichen Alleinstellungsmerkmale unserer Gemeinwesen.

  1. Der Eid. Als höchste Form der Selbstverpflichtung eines Menschen stand der gemeinsame Schwur der alten Eidgenossen im Gegensatz zum Untertaneneid feudaler Herrschaften. Der Treueschwur galt den Miteidgenossen und nicht einem Herrscher. Angesprochen ist mit der paritätisch-horizontalen Bindung das Prinzip der gegenseitigen Selbsthilfe.
  2. Die Genossenschaft. Dem Genossenschaftsgedanken entsprechend war die alte Eidgenossenschaft als eine Verbindung von unterschiedlichen, aber gleichberechtigten Stadt- und Länderorten organisiert. Voraussetzung und Zielsetzung der Mitgliedschaft in der Eidgenossenschaft war nicht die Angleichung der politischen Systeme der einzelnen Orte. Der Respekt vor den unterschiedlichen Verfassungsstrukturen und der Verzicht auf eine starke Zentralgewalt machten das Besondere der Eidgenossenschaft aus.

Von unten nach oben

Mit dem Bundesstaat von 1848 gelang es, wesentliche Elemente der alten Eidgenossenschaft in das industrielle Zeitalter zu überführen. Die neue Bundesverfassung war kein Bruch mit der Vergangenheit.

  • Durch den Fortbestand der eidgenössischen Orte als eigenständige Kantone und ein Parlament mit zwei gleichberechtigten Kammern verbanden die Verfassungsgeber das nationale mit dem föderalistischen Prinzip.
  • Verstärkt wurde diese Kontinuität mit der Einführung der direkten Demokratie im Jahre 1874. Nun hatte das Volk auch bei Sachentscheiden das letzte Wort.

Die alte Eidgenossenschaft und den Bundesstaat von 1848 verbindet das genossenschaftliche Staatsverständnis. Unsere Gemeinwesen sind von unten nach oben aufgebaut. Dieses staatspolitische Organisationsprinzip unterscheidet die Schweiz fundamental von allen ihren Nachbarländern und macht den Sonderfall aus.

Entwaffnende Ehrlichkeit

Immerhin, in einem Punkt hat der WOZ-Autor Respekt verdient. Mit entwaffnender Ehrlichkeit spricht er an, was es braucht, um den Sonderfall Schweiz zu entsorgen: «Die vordringliche Reaktion auf den Zollstreit ist (…) der Abschluss der Bilateralen III.»

  • Ganz anders der Bundesrat und die bürgerlichen Befürworter des EU-Vertragspakets, die ohne rot zu werden behaupten, dass sich mit der institutionellen Anbindung der Schweiz an die EU im Grunde genommen nichts ändert.
  • Das Gegenteil ist richtig. Mit der Übernahme von EU-Recht und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verabschieden wir uns vom politischen Sonderfall Schweiz. Die Macht verlagert sich in Richtung von Verwaltung und Gerichten. Auf der Strecke bleiben zu einem wichtigen Teil die direkte Demokratie, der Föderalismus und das Milizsystem.

Die Eidgenossenschaft hat Zukunft

Mit der Annahme des EU-Vertragspakets verabschieden wir uns nicht nur vom Sonderfall, sondern riskieren gleichzeitig das Erfolgsmodell Schweiz.

Denn eines ist offensichtlich. Der Schweiz geht es besser als ihren Nachbarstaaten. Die Menschen sind wohlhabender, die Regierungen stabiler, der Staat weit weniger verschuldet, die politische Auseinandersetzung entspannter.

In dieser Erfolgsgeschichte kommt den institutionellen Besonderheiten der Schweiz entscheidende Bedeutung zu:

  • Dank der direkten Demokratie und der Autonomie der Kantone und Gemeinden funktionieren in der Schweiz der Wettbewerb der Ideen und die Integration von politischen Minderheiten.
  • Dies im Gegensatz zu all denjenigen Gemeinwesen, die – mit den Worten von Hayek – die ganze Gesellschaft zu einer einzigen Organisation machen, die nach einem einzelnen Plan entworfen und geleitet wird.

Vieles spricht dafür, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird. Ein von unten nach oben aufgebautes Gemeinwesen ist weit besser auf die Herausforderungen einer fragmentierten Gesellschaft vorbereitet als zentralverwaltete politische Systeme. Verschiedenheit lässt sich nur mit Verschiedenheit bewältigen. Die Eidgenossenschaft hat Zukunft. Wir tun gut daran, dem Sonderfall Schweiz Sorge zu tragen.

Erstpublikation am 26.8.2025 auf www.nebelspalter.ch

Nebelspalter Politik

Die direkte Demokratie ist mehr als Volksabstimmungen

Dies gelesen: «Das Verfahren für die dynamische Rechtsübernahme steht im Einklang mit den bestehenden innerstaatlichen Verfahren.» (Quelle: Erläuternder Bericht zum EU-Vertragspaket, S. 90)

Das gedacht: Für den Bundesrat ist die Sache klar. Mit den neuen Abkommen mit der EU bleibt innen- und aussenpolitisch alles beim Alten. Mit der dynamischen Rechtsübernahme verändern sich seines Erachtens weder die innerstaatlichen Verfahren noch die bilateralen Beziehungen. In der Tat. Volksabstimmungen finden nach wie vor statt. Die institutionellen Elemente des EU-Vertragspakets haben für den Bundesrat keinen verfassungsrechtlichen Charakter. An der Urne braucht es deshalb nach Ansicht der Regierung kein Ständemehr. Eine formalistische Betrachtungsweise, die mit der Verfassungswirklichkeit der Schweiz nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.

4 Gründe, warum die direkte Demokratie mehr ist als Volksabstimmungen more

Politik

Braucht die FDP eine gemeinsame Linie?

Die politischen Parteien in der Schweiz sind von unten nach oben aufgebaut. Sie widerspiegeln unsere dezentrale Grundordnung und die Besonderheiten der direkten Demokratie.

Dies gelesen: «Die FDP steht vor einer Zerreissprobe: Die Europafrage rührt an einem alten Trauma.» (Quelle: tagblatt.ch, 3.5.2025)

Das gedacht: Die Sache ist nicht ganz einfach. Laut Medienberichten umfasst das Vertragspaket der Schweiz mit der EU rund 1500 Seiten. Da verliert man rasch einmal die Übersicht.

Dies weiss auch der Bundesrat. Deshalb wird alles unternommen, um die politische Auseinandersetzung bereits im Vorfeld der parlamentarischen Diskussion in die gewünschte Richtung zu lenken. Dazu gehörte, dass in einer ersten Phase nur ausgewählten Politikerinnen und Politikern eine privilegierte Einsicht in das Vertragswerk gewährt wurde.

Zu diesen Manövern gehört aber auch die Frage des Ständemehrs. Noch bevor das Volk und die Kantone – je nach politischer Agenda – die Bilateralen III, respektive das Rahmenabkommen 2.0 kennen, teilt uns der Bundesrat mit, dass die ganze Angelegenheit keinen Verfassungsrang hat.

Wirtschaftspolitiker vs. Staatspolitiker

Im Grunde genommen ist die Ausgangslage aber alles andere als kompliziert. Auch für die FDP. Es stehen sich zwei grundsätzliche Überzeugungen gegenüber:

Auf der einen Seite die Wirtschaftspolitiker. Für sie dreht sich fast alles um die Frage des Binnenmarktes. Aus ihrer Sicht führt mit Blick auf die Interessen des Wirtschaftsstandorts und der Unternehmen kein Weg an der dynamischen Übernahme von Gesetzen und Verordnungen der Europäischen Union und eine Unterstellung unter den Europäischen Gerichtshof vorbei.

Im Gegensatz dazu die Staatspolitiker. Sie gewichten die institutionellen Besonderheiten der Schweiz wie die direkte Demokratie, den Föderalismus oder das Milizsystem stärker als kurzfristige wirtschaftlichen Interessen. Nach ihrer Überzeugung ist ein von unten aufgebautes Gemeinwesen zukunftstauglicher als zentralverwaltete politische Systeme. more

Politik

Von nichts kommt nichts

 Vom Gebärsaal in den Hörsaal, vom Hörsaal in den Ratssaal. So einfach ist es.

Dies gelesen: «Alain Berset – ein Mann sucht Bodenhaftung.» (Quelle: www.tagblatt.ch, 12.7.2022)

Das gedacht: Gleich zu Beginn die Entwarnung. Dies ist kein weiterer Artikel zu den Eskapaden von Bundesrat Berset. Dazu ist schon alles gesagt. Nachzudenken lohnt sich aber über die von Stefan Schmid in seinem Tagblatt-Kommentar angesprochene Frage der Bodenhaftung.

Geht es im Fall Berset wirklich um einen Bundesrat, der während der Pandemie zum Pop-Star einer biederen Classe politique geworden ist und deswegen die Bodenhaftung verloren hat? Haben wir es nicht vielmehr mit einem politischen System zu tun, das insgesamt keine Bodenhaftung mehr kennt? Ist der Fall Berset weniger ein persönliches als ein grundsätzliches Problem?

In diese Richtung wenigstens weist die Karriere von Alain Berset. Von 1992 bis 2005 studierte Berset Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Rekordverdächtige 26 Semester. Während seiner Doktorarbeit arbeitete er als Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für regionale Wirtschaftsentwicklung der Universität Neuenburg. Anschliessend war Berset als Gastforscher am Institut für Wirtschaftsforschung in Hamburg tätig, bevor er strategischer Berater im Volkswirtschaftsdepartement des Kantons Neuenburg wurde.

2003 wählte das Freiburger Volk Berset in den Ständerat. Acht Jahre später war er Bundesrat. Ohne jeden Bezug zur Realwirtschaft, ohne je eine Erwerbstätigkeit ausserhalb staatlicher Institutionen ausgeübt zu haben und ohne jeden beruflichen Kontakt zur arbeitenden Bevölkerung jenseits des akademischen Milieus. Vom Gebärsaal in den Hörsaal, vom Hörsaal in den Ratssaal. So einfach ist es. Bodenhaftung? Fehlanzeige! more

Politik

Kennsch no meh, wo geen wörid hölf

Die Pandemie hat uns entgegen linken Erwartungen nicht zu besseren Menschen gemacht. Im Gegenteil. Freiwilligkeit und Solidarität sind auf dem Rückzug.

Dies gelesen: «Insieme Ostschweiz sucht verzweifelt Betreuerinnen und Betreuer für ausgebuchte Ferienlager.» (Quelle: www.tagblatt.ch, 6.7.2022)

Das gedacht: Die Bereitschaft breiter Kreise der Bevölkerung, die einschneidenden Corona-Massnahmen mitzutragen, feierten viele politische Beobachter als Ausdruck einer besseren Welt. Man interpretierte die Zustimmung zu den Covid 19-Gesetzen und die mehrheitlich widerstandlose Gehorsamkeit gegenüber dem staatlichen Corona-Regime im Sinne einer neu erwachten Solidarität.

Auf den Punkt brachte diese Begeisterung der bereits in meinem letzten Artikel zitierte WOZ-Redaktor Renato Beck: «Eine überwiegende Mehrheit der Menschen in der Schweiz nimmt sich aus Rücksicht auf ein grösseres, gemeinsames Ziel zurück.» Mit viel Pathos beschrieb der linke Journalist den Sieg des Kollektivs über Freiheit und Selbstverantwortung.

Und nun das. Kaum sind die Corona-Massnahmen Geschichte, hat sich die neue Solidarität in Luft aufgelöst. An allen Enden und Ecken fehlen Freiwillige. Die Ferien einer Arbeitskollegin, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, wurden mangels Betreuungspersonen abgesagt. Auch Insieme Ostschweiz, die jedes Jahr Ferienlager für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen organisiert, fehlen Freiwillige. Die Ferienangebote stehen auf der Kippe. «Das hat es in diesem Ausmass noch nie gegeben», sagt Claudia Lamminger von Insieme Ostschweiz. more

Politik Wissen

Freude an der Sache

Eine staatliche Ordnung, die auf einem grundlegenden Misstrauen gegenüber dem Bürger basiert, die alles kontrolliert und sanktioniert, verdrängt den Gemeinsinn.

Dies gelesen: «So krass war der Lehrermangel noch nie.» (Quelle: www.tagesanzeiger.ch, 7.6.2022)

Das gedacht: Schweizweit fehlen Lehrerinnen und Lehrer. Im Kanton Thurgau sind zurzeit 75 Stellen für ein Pensum von 50 bis 100 Prozent offen. Im Kanton Aargau sind es 392. Als Gründe werden steigende Schülerzahlen und die Pensionierung der Babyboomer-Generation genannt.

Ein zentrales Problem sind die vielen Aussteiger. Die Präsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes erklärt dies unter anderem mit zu tiefen Löhnen. Bildungsforscher dagegen weisen darauf hin, dass Primarlehrer im Vergleich zu Personen mit einem dreijährigen Fachhochschulstudium «sehr gut» dastehen.

Nur am Rande erwähnt wird in der aktuellen Berichterstattung ein möglicherweise weit grundlegenderes Problem: Die Bürokratiefalle. Eine Untersuchung aus dem Kanton Schwyz zeigt, dass Lehrpersonen heute weniger als die Hälfte der Arbeitszeit für das Unterrichten aufwenden. Seit zwei Jahrzehnten jagt eine Reform die nächste. Lehrer und Schulen klagen über «Reformitis». Die Schulverwaltungen, Fragen der Organisation, Koordination und Absprachen überlagern den Unterricht. Alles muss dokumentiert werden. Dies auch als Folge einer massiv gesteigerten Anspruchshaltung der Eltern. more

Politik

Von Arbeitern und Handwerkern keine Spur

Politische Gremien sollten in ihrer Zusammensetzung ein Abbild der Gesellschaft sein. Eigenartigerweise gilt dies aber nur mit Blick auf das Geschlecht.

Dies gelesen: «Für Helvetia ist klar: Solange Frauen und Männer noch nicht zu gleichen Teilen in den Schweizer Parlamenten vertreten sind, wird die Schweizer Demokratie mit jeder weiteren gewählten Frau eine bessere.» (Quelle: allicance F, https://de.alliancef.ch/helvetia-ruft/)

Das gedacht: Einverstanden. Ein Parlament, das die Bevölkerung korrekt repräsentiert, muss in etwa zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern bestehen. Vergleichbares gilt für unsere Regierungen. Politische Gremien sollten in ihrer Zusammensetzung ein Abbild der Gesellschaft sein.

Eigenartigerweise gilt dies aber nur mit Blick auf das Geschlecht. Ein aus sozioökonomischer Sicht repräsentatives Parlament dagegen interessiert nicht. 80% der Parlamentarierinnen und Parlamentarier der SP haben eine Hochschule abgeschlossen, so die NZZ. Bei den Grünen sind es gar 90 Prozent. Von Angestellten, Arbeitern und Handwerkern keine Spur. Die präsidiale Doppelspitze der SP wechselte direkt vom Gebärsaal in den Hörsaal und vom Hörsaal in den Parlamentssaal.

Machen wir uns nichts vor. Der Alltag einer Nationalrätin, die in einem gutgestellten Umfeld aufgewachsen ist, ein Studium absolvierte und heute für ihren Teilzeit-Job im Bundeshaus zusätzlich zu ihrem privaten Einkommen weit über 100’000 Franken verdient, hat mit der Lebenswirklichkeit einer Verkäuferin oder einer geringverdienenden alleinerziehenden Mutter nichts, aber auch gar nichts zu tun. Da hilft auch das gemeinsame Frausein nicht weiter. Vergleichbares gilt für den Parlamentarier, der nebenbei als Anwalt und Pflichtverteidiger stolze Honorare kassiert. Notabene auf Kosten der Allgemeinheit und meilenweit entfernt von den Sorgen und Nöten der arbeitenden Bevölkerung. more