Die direkte Demokratie ist mehr als Volksabstimmungen
Dies gelesen: «Das Verfahren für die dynamische Rechtsübernahme steht im Einklang mit den bestehenden innerstaatlichen Verfahren.» (Quelle: Erläuternder Bericht zum EU-Vertragspaket, S. 90)
Das gedacht: Für den Bundesrat ist die Sache klar. Mit den neuen Abkommen mit der EU bleibt innen- und aussenpolitisch alles beim Alten. Mit der dynamischen Rechtsübernahme verändern sich seines Erachtens weder die innerstaatlichen Verfahren noch die bilateralen Beziehungen. In der Tat. Volksabstimmungen finden nach wie vor statt. Die institutionellen Elemente des EU-Vertragspakets haben für den Bundesrat keinen verfassungsrechtlichen Charakter. An der Urne braucht es deshalb nach Ansicht der Regierung kein Ständemehr. Eine formalistische Betrachtungsweise, die mit der Verfassungswirklichkeit der Schweiz nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.
4 Gründe, warum die direkte Demokratie mehr ist als Volksabstimmungen
- Unsere Parteien und unsere Verbände sind Kinder der Volksrechte, so Erich Gruner. Volksinitiativen und Referenden mobilisieren die eigenen Mitglieder und Wähler. Die aktive Teilnahme breiter Kreise an der sachbezogenen politischen Auseinandersetzung macht das Besondere der politischen Parteien der Schweiz aus. Dies widerspiegelt sich im Milizsystem. Unsere Parteien sind mehr als Wahlkampf-Vehikel von Berufspolitikern.
- Ein zentrales Element dieser Mitwirkung ist das Vernehmlassungsverfahren. Dieses gibt Verbänden, Parteien und Einzelpersonen die Möglichkeit, sich in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Ganz anders die dynamische Übernahme von EU-Recht. Diese beschränkt die Mitwirkung der Schweiz auf den Einbezug von Vertretern der Bundesverwaltung im Rahmen des sogenannten «Decision Shaping». Die Parteien und die Verbände spielen keine Rolle mehr. Als Befürworter des EU-Vertragspakets arbeiten sie an ihrer eigenen Abschaffung.
- Eine besondere Kraft entfalten Initiative und Referendum bei der Integration von politischen Minoritäten. Auf Dauer ist eine kontinuierliche Staatsführung gegen referendumsfähige Minderheiten nicht möglich. Heute sind alle wählerstarken Parteien im Bundesrat vertreten. Die Vielparteienregierung ist eine unmittelbare Folge der direkten Demokratie.
- Die Aussicht auf eine Volksabstimmung zwingt alle Beteiligten zu breit abgestützten Kompromissen. Die Konsensorientierung prägt die Schweiz. In einer repräsentativen Demokratie hingegen reduziert sich die politische Auseinandersetzung auf den Zweikampf von Regierung und Opposition. Immer geht es um die absolute Mehrheit, um Sieg oder Niederlage. Der politische Gegner ist der Feind, den es zu schlagen gilt, koste es, was es wolle.
Der Bundesrat verspielt seine Glaubwürdigkeit
Die dynamische Rechtsübernahme und die Stellung des Europäischen Gerichtshofs im Schiedsgerichtsverfahren konzentrieren die politische Macht bei der Verwaltung und den Gerichten. Unseren Parteien, den Verbänden, dem National- und dem Ständerat sowie dem Schweizer Volk bleibt die Rolle des Zuschauers, der im Nachgang die vom EU-Parlament oder der EU-Kommission verabschiedeten Gesetze und Richtlinien annehmen oder ablehnen kann. Und dies erst noch unter Androhung von Ausgleichsmassnahmen im Falle eines negativen Volksentscheids.
Dieser Top-down-Ansatz steht in einem fundamentalen Widerspruch zur politischen Kultur der Schweiz. Die dynamische Übernahme von Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien der EU-Kommission und des EU-Parlaments wäre die folgenreichste institutionelle Reform des schweizerischen Gesetzgebungsverfahrens seit Einführung des Gesetzesreferendums im Jahre 1874 und der Verfassungsinitiative 1891. Ein Bundesrat, der diese grundsätzliche Neujustierung des politischen Systems der Schweiz aus abstimmungstaktischen Überlegungen als Nebensächlichkeit ohne verfassungsrechtlichen Charakter einordnet, verspielt seine Glaubwürdigkeit.
Erstpublikation am 7.7.2025 auf www.nebelspalter.ch


Da in der Schweiz die grösste Partei absolut konsensunfähig ist und top-down geführt wird, stimmt die Analyse von Kurt Weigelt nur in Teilen. Seine heile Schweizer Wrlt findet leider in der Real existierenden Schweiz nicht statt.
Die Behauptung, die dynamische Rechtsübernahme schalte die Demokratie aus, kann ich nicht nachvollziehen. Das Parlament kann sich jederzeit einbringen. Die entsprechenden Grundlagen werden geschaffen, soweit sie nicht schon vorhanden sind.