Nebelspalter Politik

Braucht die Schweiz einen politischen Kulturwandel?

Dies gelesen: «Cottier fordert einen Kulturwandel.» (Quelle: NZZ, 17.3.2025)

Das gedacht: ». Thomas Cottier lehrte als Professor für Europarecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern. Zudem war er Mitglied oder Vorsitzender mehrerer GATT- und WTO-Gremien und in internationalen Schiedsgerichten.

Als Präsident der europafreundlichen Vereinigung «Die Schweiz in Europa» und als einer der Wortführer der gescheiterten Europainitiative darf man ihn wohl getrost als «EU-Turbo» bezeichnen.

Waffengleichheit der besonderen Art

Wenig überraschend unterstützt Cottier das EU-Vertragspaket. Besonders angetan hat es ihm das Ad-hoc-Schiedsgericht, das im Streitfall zwischen der Schweiz und der EU eingesetzt wird. «Es wird Waffengleichheit geschaffen, obwohl die EU die stärkere Partnerin ist», so Cottier

Überraschender dagegen ist, dass im NZZ-Artikel die Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs für das Schiedsverfahren nicht thematisiert wird:

  • Betrifft eine Streitfrage einen Begriff aus dem EU-Binnenmarktrecht, legt das Schiedsgericht diese dem EuGH zur Auslegung vor. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der sich selbst als Motor der europäischen Integration versteht, ist für das Schiedsgericht und damit für die Schweiz verbindlich. Das Gericht der Gegenpartei. Eine Waffengleichheit der besonderen Art.

Die Schweiz ist kein Richterstaat

Um die Forderung von Cottier nach einem Kulturwandel in Richtung von mehr Schiedsverfahren zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass bei uns das politische Austragen von Konflikten traditionell Vorrang hat vor der rechtlichen Streitbeilegung. Die Schweiz ist kein Richterstaat.

Dies zeigt sich insbesondere in der Tatsache, dass es bei uns kein Verfassungsgericht gibt:

  • Die Verfassungsgeber von 1848 wollten keine richterliche Kontrolle über das Parlament.
  • Heute ist es Artikel 190 der Bundesverfassung der festlegt, dass Bundesgesetze für das Bundesgericht und die rechtsanwendenden Behörden massgebend sind. Anders als beispielsweise Deutschland gibt es in der Schweiz kein Gericht, das Gesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit hin überprüft.

Eine institutionelle Besonderheit, die sehr viel mit der Bedeutung der Volksrechte für das politische System der Schweiz zu tun hat. In der direkten Demokratie ist das Volk der Souverän. Volksentscheidungen geniessen maximale Legitimität. Diese darf nicht durch ein parteipolitisch zusammengesetztes Richtergremium ausser Kraft gesetzt werden.

Volksabstimmungen und internationale Gerichtsbarkeit

Ein Staatsverständnis, das von der Rechtsprechung internationaler Gerichte herausgefordert wird. Dies zeigt sich beispielhaft im Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Bettelverbot in Genf. Gestützt auf Artikel 8 der Menschrechtskonvention, der das Privat- und Familienleben schützt, erklärte der EGMR dieses für rechtswidrig. Mit Folgen für alle Schweizer Städte.

Nicht nur Genf, auch die Stadt St.Gallen musste sich von ihrem Bettelverbot verabschieden. Heute ist das Betteln im öffentlichen Raum wieder erlaubt. Nicht die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vor Ort entscheiden in einer Volksabstimmung über ihren unmittelbaren Lebensraum, sondern sieben Richter in Strassburg ohne einen Bezug zur Stadt St. Gallen und zu den hier lebenden Menschen. Daran kann auch der Umstand nichts ändern, dass ein Mitglied des 46-köpfigen Gerichtshofs für Menschenrechte von der Schweiz delegiert wird.

Das Grundproblem des EU-Vertragspakets

Die Aussagen von Cottier beziehen sich auf den Schiedsgerichtsansatz im Wirtschaftsvölkerrecht. Möglicherweise unbeabsichtigt spricht er jedoch das Grundproblem des EU-Vertragspakets an:

  • Die Bedeutung des Schiedsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs im Streitfall stehen wie die dynamische Rechtsübernahme im Widerspruch zur politischen Kultur der Schweiz.
  • Eine andere Folgerung lässt sich aus der Forderung nach einem Kulturwandel nicht ziehen.

Die Haltung von Cottier steht stellvertretend für die Skepsis akademischer und wirtschaftlicher Eliten gegenüber der direkten Demokratie. Hinter dieser Skepsis steht die Überzeugung, dass top-down geführte Systeme basisdemokratisch gelenkten Gemeinwesen überlegen sind. Kleine, in sich geschlossene Führungsgremien erachtet man als effektiver und effizienter als breit abgestützte, im Volk verankerte Meinungsbildungsprozesse.

Es geht um mehr als um Gesetze

Dumm nur, dass es keine einzige wirtschaftspolitische Kennzahl und keine einzige historische Erfahrung gibt, die in einer längerfristigen Betrachtungsweise diese Überzeugung bestätigt.

Man kann es daher nicht oft genug wiederholen:

  • Bei der Abstimmung über das EU-Vertragspaket geht es um mehr als um einzelne Gesetze, Verfahren und technische Details.
  • Auf dem Prüfstand liegt der staatspolitische Sonderfall Schweiz.

Dank der direkten Demokratie haben wir es selbst in der Hand, uns gegen den schleichenden Ausverkauf unseres politischen Systems zur Wehr zu setzen. Ein Privileg, das wir nicht leichtfertig aus der Hand geben sollten.

Erstpublikation am 9.9.2025 auf www.nebelspalter.ch

One Response

Peter Gehler sagt:

Ich stehe voll und ganz hinter der direkten Demokratie und hinter dem Schweizer Staatsaufbau, allerdings ohne religiöse Gefühle, wie sie neustens bei Kurt Weigelt durchschimmern. Und ich unterstütze die Bilateralen III aus tiefster Überzeugung, weil sie entgegen diesen Behauptungen auf die Besonderheiten der Schweiz Rücksicht nehmen. Die Volksrechte werden voll und ganz respektiert und auch das Parlament hat volle Handlungsfreiheit. Die Teufel, die da im Dutzend an die Wand gemalt werden, siehe ich nicht.
Aber diesen Satz nehme ich persönlich: «Die Haltung von Cottier steht stellvertretend für die Skepsis akademischer und wirtschaftlicher Eliten gegenüber der direkten Demokratie. Hinter dieser Skepsis steht die Überzeugung, dass top-down geführte Systeme basisdemokratisch gelenkten Gemeinwesen überlegen sind. Kleine, in sich geschlossene Führungsgremien erachtet man als effektiver und effizienter als breit abgestützte, im Volk verankerte Meinungsbildungsprozesse.» Das muss ich mir nicht gefallen lassen.
Da dieser Blog, der früher von einem hohen intellektuellen Niveau geprägt war, nun nur noch SVP/Weltwoche/Nebelspalter-Propaganda wiederkäut, kann ich mich jetzt getrost abmelden. Zugegeben mit einer gewissen Enttäuschung.

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