Economiesuisse: Wenn die direkte Demokratie zur Nebensache wird
Dies gelesen: «Die innerstaatlichen Genehmigungsverfahren sind vorbehalten und entsprechende Fristen sind garantiert (…). Damit bleiben sämtliche verfassungsrechtlichen Erfordernisse der Schweiz gewahrt, inklusive die Volksrechte. (Quelle: economiesuisse, Vernehmlassung Paket Schweiz-EU)
Das gedacht: Der Vorstand von economiesuisse unterstützt das EU-Vertragspaket. Ohne Wenn und Aber. Besonders angetan ist man von der dynamischen Rechtsübernahme. Diese, so economiesuisse, liegt im wirtschaftlichen Interesse der Schweiz.
Nicht angesprochen wird in der Vernehmlassung von economiesuisse das Spannungsfeld von dynamischer Rechtsübernahme und direkter Demokratie. Man begnügt sich mit der Feststellung, dass die verfassungsrechtlichen Erfordernisse gewahrt bleiben. Eine Verkürzung der direkten Demokratie auf den Abstimmungssonntag, die jedes Verständnis für das politische System der Schweiz vermissen lässt.
Zwangsheirat statt Liebesbeziehung
Wer sich allerdings mit der Geschichte der Volksrechte befasst, den kann das fehlende Verständnis von economiesuisse für den politischen Sonderfall Schweiz nicht wirklich überraschen. Seit jeher gleicht das Verhältnis der Spitzenverbände der Wirtschaft zur direkten Demokratie mehr einer Zwangsheirat als einer Liebesbeziehung:
- Die Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums im Jahre 1874 richtete sich gegen das «System Escher». Alfred Escher, visionärer Wegbereiter der modernen Schweiz, dreifacher Nationalratspräsident, Eisenbahnpionier und Gründer der ETH, der Schweizerischen Kreditanstalt und der Rentenanstalt verkörperte wie kein anderer im jungen Bundesstaat die wirtschaftliche und politische Machtkonzentration in den Händen einer freisinnig-liberalen Elite. Dagegen setzte sich die direktdemokratische Bewegung zur Wehr.
- Dem eigenen Selbstverständnis entsprechend vertraute der Vorort, der 1870 gegründete Spitzenverband von Industrie und Handel, auf Absprachen hinter verschlossenen Türen. Der Vorort-Direktor verstand sich als achter Bundesrat. Die direktdemokratische Auseinandersetzung überliess man mit vornehmer Zurückhaltung den Bodentruppen von Gewerkschaften und Gewerbeverband.
- Trotz veränderter politischer Rahmenbedingungen hat sich bis heute daran nichts geändert. Economiesuisse, die Nachfolgeorganisation des Vororts, hat noch nie eine eigene Volksinitiative oder ein eigenes Referendum lanciert. Economiesuisse und der Schweizerische Arbeitgeberverband sind nicht referendumsfähig.
- Verstärkt wird die Distanz der Konzernwirtschaft zur direkten Demokratie durch die Tatsache, dass die Hälfte der Geschäftsleitungsmitglieder der 100 grössten Arbeitgeber keinen Schweizer Pass Für viele ausländische Konzernmanager ist das politische System der Schweiz mit seinen Initiativen und Referenden, mit dem Föderalismus und dem Milizsystem in Politik und Armee ein Buch mit sieben Siegeln.
Einzigartige Stabilität
Für economiesuisse ist die direkte Demokratie bestenfalls Nebensache. Eine Haltung, die der besonderen Bedeutung des politischen Systems für den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz nicht gerecht wird:
- Die direkte Demokratie zwingt die Politik zu einer umfassenden Beteiligung aller relevanten politischen Akteure. Dazu gehört die Vielparteienregierung. Brandmauern als Mittel des Machterhalts funktionieren nicht.
- Das Initiativrecht durchbricht das Anbieter-Monopol der etablierten Parteien und ermöglicht, im parlamentarischen Prozess nicht berücksichtigte Anliegen und insbesondere neue Themen frühzeitig auf die politische Agenda zu setzen.
- Referenden garantieren, dass umstrittene Gesetzesvorlagen von der Mehrheit des Stimmvolks getragen werden. Bei uns gibt es keinen Green Deal und kein Heizungsgesetz, das gegen die Mehrheit der Bevölkerung verabschiedet werden kann.
Die Konsensorientierung ist eine unmittelbare Folge der direkten Demokratie. Der breit abgestützte Kompromiss macht den Unterschied und erklärt nicht nur die einzigartige Stabilität des politischen Systems, sondern auch die mit dieser Stabilität verbundene Attraktivität der Schweiz als Unternehmensstandort.
Schmerzliche Niederlagen
In der jüngeren Vergangenheit musste die Wirtschaft an der Urne zahlreiche schmerzliche Niederlagen akzeptieren. Erinnert sei etwa an die Reform der beruflichen Vorsorge, die Vorlage für den Autobahnausbau oder die 13. AHV-Rente. Selbst der extremen Konzernverantwortungsinitiative stimmten 50,7 Prozent des Stimmvolkes zu.
Economiesuisse, der Schweizerische Arbeitgeberverband und zunehmend auch der Gewerbeverband dringen mit ihren Argumenten nicht mehr bis zu den Stimmbürgern durch. Viele sprechen von Entfremdung.
Eine Fehlentwicklung, die sich im Zusammenhang mit dem EU-Vertragspaket zu wiederholen droht. Ein economiesuisse-Vorstand, der die institutionelle Anbindung der Schweiz an die EU mit 69 JA und nur einer Gegenstimme durchwinkt, hat nicht nur den Kontakt mit der Bevölkerung, sondern auch die Nähe zu vielen Unternehmen verloren.
Und damit sind wir wieder bei Alfred Escher. Dieser stand am Ende seiner glanzvollen Karriere isoliert und ohne politischen Einfluss da.
Seit jeher gilt, dass man die Schweiz nicht von oben herab regieren kann. Eine Erfahrung, die uns von allen unseren Nachbarländern und der EU unterscheidet.
Die dynamische Übernahme von EU-Recht und die Stellung des EU-Gerichtshofs im Streitfall stehen im Widerspruch zur politischen Kultur der Schweiz. Auf der Strecke bleiben der politische Sonderfall und die damit verbundene Standortattraktivität. Eine Entwicklung, an der weder die «economie» noch die «suisse» interessiert sein können.
Erstpublikation am 7.10.2025 auf www.nebelspalter.ch

